Steve Sillett erforscht, weshalb Redwoods mehr als 110 Meter hoch werden
Der Humboldt Redwoods State Park ist kein gewöhnlicher Park. «Von den
147 grössten Bäumen der Welt – jeder höher als 107 Meter – stehen hier
allein 100», erzählt Steve Sillett, während er auf einem schmalen Pfad
durch den Urwald marschiert. Der Botaniker von der Humboldt State University
kennt die Baumriesen wie kein anderer; sein Lehrstuhl widmet sich explizit
der Erforschung der welthöchsten Bäume.
Einst bedeckten die Redwoods die Pazifikküste von San Francisco bis nach
Oregon. Manche von ihnen sind über 2000 Jahre alt, mit Durchmessern bis
zu sieben Metern. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Pio nie
re, den Bestand abzuholzen. Nur in einigen Parks hat ein Rest Wildnis
überlebt
So beeindruckend die Baumgiganten sind: Biologen wussten bis vor wenigen
Jahren kaum etwas über sie. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Kronen
ihre ersten Äste mitunter erst in 75 Meter Höhe ausbreiten. Vor allem
die oberen Etagen der Sequoia sempervirens, wie die Redwoods wissenschaftlich
heissen, waren bis vor kurzem praktisch unerforscht – bis Sillett und
andere Wissenschaftler begannen, dieses Niemandsland zwischen Himmel und
Erde zu erkunden
Die Wasserleitung legt die Maximalhöhe der Bäume fest
In einer Schwemmlandebene des Humboldt-Parks ragt stolz ein Küstenmammutbaum
namens Paradox auf. Der Stamm sticht wie eine Nadel in den Himmel und
misst trotz geringem Stamm umfang 112 Meter. Hoch genug, um ein 30-stöckiges
Haus zu überragen
Sillett hangelt sich an einem Seil ins Kronenge strüpp des Rotholzriesen
hoch. Dort oben ist ein Computer fixiert, der die Daten von über einem
Dutzend Sensoren sammelt, die den Wasserfluss unter der Borke, den Lichteinfall,
Niederschlag, Wind und Nebel messen
Es ist ungewohnt still. Man hört Wassertropfen, einen Ast knacken – und
das rauschende Walkie- Talkie, mit dem Sillett mit seiner inmitten von
Schwertfarnen stehenden Mitarbeiterin und Ehefrau Marie Antoine am Fuss
von Paradox kommuniziert. Das Ziel des akrobatischen Forscher-Duos ist
es, zu verstehen, wie die Baumriesen solch Schwindel erregende Höhen erobern
In den ersten 20 Lebensjahren schiesst ein Küstenmammutbaum spielend
15 Meter hoch. Am Ende seiner Jugend – mit 800 Jahren – kann er gut 100
Meter messen. Vor drei Jahren stellte Sillett mit Kollegen in einer in
«Nature» publizierten Studie fest, dass die Wasserleitung die maximale
Baumhöhe limitiert: Je höher, desto schwerer fällt es, die Äste und Blätter
in den oberen Etagen täglich gegen die Schwerkraft und Reibungskräfte
mit Flüssigkeit zu versorgen. Die Forscher schlossen, die maximale Höhe
für Bäume läge bei 122 bis 130 Metern. Die höchsten bekannten Rothölzer
kommen der theoretisch errechneten Obergrenze bereits ziemlich nahe. Erst
2006 entdeckten mit Sillett befreundete Redwood- Liebhaber bei einem Streifzug
durch den Redwood National Park in einer unzugänglichen Schlucht die drei
derzeit höchsten Bäume der Welt. Sie schätzten die Höhe zunächst mit einem
Lasergerät ab; Sillett bestieg sie wenige Tage später, um vom obersten
Trieb ein Massband herabzulassen: Hyperion brachte es auf 115 Meter, Helios
auf 114 und Ikarus auf 113 Meter.
In den höchsten Wipfeln leben selbst Salamander und Krebse
Das Dach der Redwoods war lange Zeit eine unerreichbare Sphäre. Zwar entdeckten
Biologen bereits in den Achtzigerjahren mit Hilfe von Heissluftballons,
Luftschiffen und Seilen die artenreichen Kronen der Regenwälder. In Mitteleuropa
und Amerika begannen Forscher Mitte der Neunzigerjahre zudem, Gerüste,
Hebebühnen und Kräne zu nutzen. Doch selbst der inmitten von Schierlingstannen
und Douglasien platzierte, 86 Meter hohe Kran des Wind River Canopy Projects
der Washington State University reicht nicht in die höchsten Regionen
– und sein Radius ist eingeschränkt. «Um den Urwald zu erforschen», sagt
Sillett, «müssen wir in der Lage sein, auf jeden Baum, in jede Höhe zu
klettern.»Dieses Ziel setzte sich Sillett, als er 1995 eine Professur
an der Humboldt State University in Arcata nördlich des Humboldt State
Parks antrat. Er entwickelte die von Arboristen – Experten für Baumpflege
– genutzten Klettertechniken weiter, um die entlegensten Baumregionen
der Welt zu betreten – und erste wissenschaftliche Studien über sie zu
veröffentlichen.
Was er dort entdeckte, war nicht die oft prognostizierte Wipfelödnis.
Salamander, Grillen, Tausendfüssler, Schnecken und selbst winzige Ruderfusskrebse
hausen im Waldobergeschoss. In mancher Astgabel spriessen aus der Erde
über Jahrzehnte verrotteter Äste und Nadeln Heidelbeer- und Holundersträucher
und Bonsaiausgaben etlicher Baumarten. Auch Moose und Flechten finden
sich.
Dabei lernten Sillett und Kollegen, dass es Hunderte Jahre dauert, bis
sich die Artenvielfalt in den Redwoods voll ausbildet. Bei den heute angepflanzten
Setzlingen rings um den Park, sagt Marie Antoine, wird es 200 Jahre dauern,
bis manche Flechten in den Kronen auftauchen. «Bis zur Fülle des Altbestands
darf man getrost bis ins Jahr 2800 warten.»
Wird eine Baumspitze von einem Blitz getroffen, von einem Sturm abgebrochen,
oder fackelt sie in einem Feuer ab, bildet der Küsten-Redwood in der Regel
neue Triebe. Diese entwickeln sich über Jahrhunderte wiederum zu Stämmen.
So verfügt Iluvatar – ein beleibter, vermutlich über 2000-jähriger Methusalem
im Prairie Creek Redwood State Park – über 209 Stämme, die aus Haupt-
und Nebenstämmen vertikal in die Höhe streben. Alle dicht behangen mit
Flechten, Moosen, Sträuchern und Reisig, als befände man sich im Unterholz.
Wachstum wird durch erhöhte CO2-Werte kaum begünstigt
Das spielt mit eine Rolle für das Höhenwachstum. Denn mit dem Dickicht
nimmt die Zahl der Nadeln zu – und die helfen den Redwoods, mehr Wasser
mit Mammutkraft in die Höhe zu transportieren. Das geschieht einerseits
durch den Unterdruck, den das durch die Nadeln verdunstende Wasser im
inneren Leitungssystem erzeugt. Andererseits absorbieren die Nadeln Wasser
direkt aus dem Küstennebel, der im Sommer die Wälder verhüllt.
Mancher Baum hat gar besondere Tricks in petto. Ein Redwood namens Federation
Giant trägt in über 90 Meter Höhe einen verfaulenden Hauptstamm. Das Wasser,
das ihn entlang in den lebenden Stamm sickert, nehmen jüngere Triebe direkt
und über ins morsche Material gebohrte Luftwurzeln auf.
Mancher Baum hat gar besondere Tricks in petto. Ein Redwood namens Federation
Giant trägt in über 90 Meter Höhe einen verfaulenden Hauptstamm. Das Wasser,
das ihn entlang in den lebenden Stamm sickert, nehmen jüngere Triebe direkt
und über ins morsche Material gebohrte Luftwurzeln auf
Nachdem sich Sillett von Paradox abgeseilt hat, geht er mit Antoine durch
den antiken Redwood- Tempel zum nächsten Studienobjekt. Sie steigen über
bemooste Stammsäulen, die wie Mikadostäbe übereinander gestürzt am Boden
liegen. «Der Klimawandel », meint Sillett, «könnte die einzigartige Insel
durchaus aus dem Gleichgewicht werfen – wenn der von der Küste hereintreibende
Regen und Nebel nachlässt. Die Bäume brauchen bis zu tausend Liter Wasser
pro Tag.» Als er vor einem zerfurchten, wohl an die 2000 Jahre alten Koloss
namens Bull Creek Giant steht, fügt er kopfschüttelnd hinzu: «Aber was
rede ich. Diese Kreaturen haben schon so vieles überlebt.»
Bäumige Rekorde
Grösster Baum: Hyperion, ein Küsten-Redwood (Sequoia sempervirens) in
Nordkalifornien; Höhe: 115,5 Meter.
Massivster Baum: General Sherman Tree, ein Sierra-Redwood (Sequoiadendron
giganteum) in Kalifornien; Höhe: 84 Meter, Umfang: 31 Meter, Volumen:
1486 Kubikmeter.
Ältester Baum: Methuselah, eine fast 5000 Jahre alte Grannenkiefer in
Kalifornien.
Dickster Baum der Schweiz: vermutlich eine Kastanie bei Chironico, Umfang:
11,6 Meter
Grösster Baum der Schweiz: nicht bekannt; vermutlich eine Fichte mit einer
Höhe von 50 bis 60 Metern

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